16. September 2011

Vorlaute Kinder und die Sittsamkeit

Ich habe mir sagen lassen, dass ich als Kind eher zu vorlauteren Sorte Mensch gehört habe. Laute Kinder im Allgemeinen mögen viele Leute nicht so gerne, vor allem dann nicht, wenn diese ihre Lautheit nicht auf klar definierte Bereiche begrenzen können. Auf einem Spielplatz beispielsweise dürfen Kinder gerne ihre Dezibelgrenzen austesten, oder an einem Ort, wo es niemandem auffällt, etwa neben einer Baustelle. Aber bitte nicht in einem öffentlichen Verkehrsmittel oder in einem Restaurant oder gar in der Kirche.
"Gott liebt alle Kinder", pressen Pfarrer gerne hervor, wenn ein besonders lautes Exemplar der Gottesgeliebten wieder wissen will, weshalb dort oben ein blutiger Nackter hänge. Den meisten der Gemeindemitgliedern ist Gott in solchen Momenten aber herzlich egal, lieber schütteln sie missbilligend den Kopf oder drohen den peinlich berührten Erziehungsberechtigten mit dem Gesangbuch.
Vorlaute Kinder im Speziellen sind häufig nicht beliebt, weil sie sich nicht diskret verhalten. "Davon kriegt man Krebs und ein Raucherbein", prophezeit mein vierjähriges Ich einem jeden Raucher, der seinen Weg kreuzt, die Begeisterung der Angesprochenen hält sich eher in Grenzen. "So etwas gehört sich nicht", erläutert mir ein nikotinzerfressener älterer Herr und schaut dann vorwurfsvoll meine Mutter an, die sich mit ihrem vorlauten Kind einfach so in die Öffentlichkeit begibt, ohne vorher entsprechende Vorkehrungen zu treffen, etwa mit Panzertape.

Alfalfa zählt ja auch zu meinen persönlichen Vorbildern. via weheartit.


Noch heute bewundere ich den hohen pädagogischen Gehalt des Satzes "Das gehört sich nicht". Ein jedes Kind, welches diese Zurechtweisung zu hören bekommt, sollte sich glücklich schätzen, dass sich ein Erwachsener die Mühe gemacht hat, ihm die sittlichen Grundzüge unserer Gesellschaft so klar ersichtlich zu erläutern.
Viele Menschen sind der Ansicht, dass Kinder ein Privatvergnügen ihrer Eltern sind und reagieren daher empört, wenn sich dieses Privatvergnügen in ihr Leben einmischt und sie in ihrer wohlverdienten Ruhe zu stört. "Stellen Sie Ihr Kind ruhig!" fordert also ein genervter Vertreter der Sittsamkeit von der Mutter eines vorlauten Kindes, weil er nämlich gerade Feierabend hat und jetzt nun wirklich nicht auch noch das vorlaute Geschwätz der zukünftigen Generation ertragen kann.
Ich selbst bin froh, dass mich meine Mutter nie ruhig gestellt hat, zumal ich finde, dass dieser Formulierung etwas merkwürdig Morbides beiwohnt. Auch ich freue mich natürlich nicht, wenn ein Kind mir nach einem sehr langen Tag seine Lebensweisheiten ins Ohr brüllt.  Vor Kurzem  ertappte mich dabei, dass ich mir vorstellte, wie wohl der ungesittete Bengel, welcher mich fünf Minuten zuvor auf die Gefahren meines übertriebenen Kaffeekonsums hingewiesen hatte - er habe mich beobachtet, das sei schon mein zweiter Becher - mit ein bisschen Panzertape auf dem Mund aussähe. Weil mir aber auch kein wirkliches Gegenargument einfiel, sagte ich resigniert, dass er Recht habe, ich sei lediglich sehr müde, habe Kopfschmerzen und müsse daher ein wenig Koffein zu mir nehmen. Der Junge nickte verständig, das kenne er von seiner Mutter, in diesem Fall sei mein Verhalten legitim. Er ging von dannen und ich starrte noch eine Weile ungläubig vor mich hin, vollkommen begeistert von der Möglichkeit, vorlaute Kinder mit einer plausiblen Erklärung zufriedenzustellen. In Gedenken an mein früheres Vorlautsein werde ich von nun an entsprechende Personen in entsprechenden Situationen ungefragt darauf hinweisen. Ich freue mich jetzt schon auf den älteren Herren, der mir erklären will, dass sich mein Einmischen nicht gehöre. In diesem Moment werde ich mich  nämlich an ein weiteres Benehmen aus Kindheitstagen erinnern und ihm mit einem unschuldigen "Warum" antworten.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Vorlaute Kinder sind etwas Herzzerreissendes: Einerseits sind sie kommunikativ wertvoller, andererseits kann man sie, obwohl man es oft so gerne getan hätte, nicht, in Säure auflösen und den Nachbarn sagen, sie seien nach Vegas gefahren.