23. August 2011

Wie ich ein Nörgel-Hangover durchmache

Wenn ich gerade nicht die Muße habe, mir über etwas Bedeutsames oder Gewichtiges den Kopf zu zerbrechen, rege ich mich mit Vorliebe über die kleinen Dinge im Leben auf. Ich wache morgens auf und erkläre den Tag zum Nörgel-Tag. Ich nörgle den Wecker voll, ich nörgle mein verschlafenes Gegenüber an, ich nörgle über die Konsistenz des noch viel zu ungetoasteten Toastbrotes ("Da hat doch wieder jemand eine kürzere Toast-Zeit eingestellt!"), ich nörgle über das Wetter und über jeden Radiosender, den unser Radio empfangen kann.
Befinde ich mich dann kurze Zeit später an einem öffentlichen Ort, laufe ich zu Höchstformen auf, denn da sind meistens auch andere Menschen anwesend, die Steilvorlagen zum Nörgeln und Aufregen bieten.
"Gleich feiert dein Arsch Kirmes!" prophezeit ein Vater seiner kleinen Tochter, die ein unflätiges Wort verwendet hat, denn er legt Wert auf eine gepflegte Ausdrucksweise.
"Stänten ist auch nicht mehr das, was es mal war!" klagt eine exklusive Dame anderen exklusiven Damen ihr Leid, denn St.Anton sagt nur das gemeine Volk.
"Frauenfußball kann schon ganz schön geil sein, sind ja auch vielmehr Bälle im Spiel!" erfreut sich ein fettes Bürschchen, denn er hatte als Kind leider einen Unfall und ist nun minderbemittelt.
Mein Körper zeigt sämtliche Reaktionen eines Vorzeige-Nörglers. Ich ziehe eine Augenbraue hoch, ich drehe den Kopf abfällig zur Seite, ich deute ein überlegenes Lächeln an, ich seufze laut auf, ich schaue böse hinter meinem Buch hervor. Hätte ich gerade einen Nicht-Nörgel-Tag und könnte ich mich wie ein Außenstehender beobachten, wäre ich wahrscheinlich versucht, mir selbst eine reinzuhauen. Auf der Welt existieren nämlich eigentlich nur wenige Dinge, über die ich mehr nörgeln könnte als über Nörgler.

via weheartit

Nörgler sind verbittert, haben keine Freude am Leben und sehen beim Nörgeln auch meistens scheiße aus. Was mich aber am meisten an Nörglern stört, sind ihre Vorurteile. Ich selbst bin Google für vorgefertigte Meinungen.
Der Vater des kleinen Mädchens ist bestimmt ein typischer Choleriker mit Goldkettechen und sein Gesicht wird ganz rot, wenn er sich aufregt. Außerdem ist er Bauarbeiter und sorgt mit dem Presslufthammer dafür, dass der Asphalt mal so richtig Kirmes feiert, ehe er mittags Pause macht und sich ein fettiges Bifi-Würstchen in den Mund schiebt. Die exklusive Dame trägt Schuhe aus Lack-Krokodilsleder und spendet einmal im Jahr für ihr Gewissen an Unicef. Außerdem ist sie abhängig von ihrem Ehemann, der Präsident vom Lions Club ist und einen Bierbauch hat. Der fette Junge hört schlechten HipHop, trägt so eine idiotische Atzen-Mütze und schwitzt immer ganz eklig, wenn er etwas schneller gehen muss.Nach meiner menschlichen Analyse lehne ich mich gerne zufrieden zurück und freue mich, dass ich ein so wunderbares Wesen bin. 
Spätestens am nächsten Tag ereilt mich der Nörgel-Kater. Ich fühle mich schlecht, weil ich mir stets allwissend vorkomme. Ich bilde mir ein, über Personen Bescheid zu wissen, nur weil ich zufällig wenige Sekunden aus ihrem Leben mitbekommen habe. Ich entwickle eine Haltung ihnen gegenüber, die in den meisten Fällen wohl komplett ungerechtfertigt ist. Und mit Vorliebe erzähle ich anderen davon, ich infiziere sie mit meiner Nörgel-Meinung und schon finden auch meine Freunde den Kirmes-Papi, die Stänten-Dame und das Bälle-Bürschchen richtig daneben. Stets gelobe ich nach einem übertriebenen Nörgel-Tag Besserung, ich bemühe mich, offen und vorurteilsfrei auf die Leute zuzugehen und zwinge mich, mir nicht pausenlos vorzustellen, was die Menschen um mich herum charakterlich gesehen so alles auszeichnet. Und außerdem hoffe ich, dass auch andere Menschen hin und wieder dem Nörgel-Syndrom erliegen. Mit meiner bestimmt aus Stylegründen gekauften Hipsterbrille, meiner ganz offensichtlichen Internet-Sucht und meinen übertrieben lauten Essgeräuschen in öffentlichen Verkehrsmitteln am sehr frühen Morgen (Karotten, Kohlrabi, Kekse) bin ich bestimmt auch eine gute Steilvorlage.

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