28. August 2011

Weshalb ich ein kleiner Spießer bin

Virginia Jetzt! - Von guten Eltern



Tief im Innern bin ich unfreiwillig ein Spießer. Ich versuche meist mit relativ großem Erfolg, diese Seite von mir zu verheimlichen, denn kein Mensch will ein Spießer sein, auch das doofe Kind aus der Bausparkassen-Werbung will das in Wahrheit nicht, schließlich ist ein Bausparer eigentlich kein Spießer, sondern bloß ein halbwegs kluger Mensch, der an seine Zukunft denkt.
Ein Spießer zu sein ist also unglaublich anstregend, denn man muss es dem eigenen Sozialleben zuliebe ständig unterdrücken oder ins Gegenteil verkehren. "Es ist aus Protest gegen mein inneres Spießertum", erkläre ich also feierlich meiner Wohngemeinschaft, wenn ich das Bad nicht putze, nur um im nächsten Moment heimlich die Obstschale auf dem Küchentisch parallel zur Teebox auszurichten.

Gerne bilde ich mir ein, dass ich nicht freiwillig zum Spießer geworden bin. In Wahrheit sind an diesem verkorsten Teil meiner Persönlichkeit nämlich meine Eltern schuld, denn kein Kind möchte später einmal so werden wie seine Eltern. Ich wage zu behaupten, dass dies eine Erkenntnis ist, die eventuell bereits den Fötus im Mutterleib ereilt, wenn er das erste Mal mitbekommt, wie Papa sich vor den Bauch von Mama kniet und peinliche Dinge flüstert.  "Gott, wie peinlich", denkt sich der Fötus und fasst den Entschluss, später einmal ganz anders zu sein. Weiter wage ich zu behaupten, dass es dabei egal ist, was für Dinge Papa flüstert, denn der Fötus übt sich ganz einfach in Totalverweigerung.
An dieser Stelle kann man Glück oder Pech mit seinen Eltern haben. Wenn man ein glücklicher Fötus ist, dann hat man Eltern, die so richtige Spießer sind. "Mein Sohn, später übernimmst du einmal den Betrieb", flüstert der Spießer-Papa seinem Kind entgegen. "Gott, wie peinlich", denkt sich der Fötus der Spießer-Eltern und kann sich auf ein Leben als ewiger Rebell freuen, der später sicherlich niemals als Spießer bezeichnet werden wird und sich auch innerlich nicht selbst zügeln muss.

Ich hingegen war ein eher unglücklicher Fötus, denn meine Eltern sind leider keine Spießer. Ich stelle mir meinen Vater vor, der sich in einer Jeans mit Leoparden-Muster vor den Bauch meiner Mutter kniet, die sich zum Ärger ihrer erzkatholischen Eltern von sämtlichen gutbürgerlichen Konventionen abgewandt und stattdessen mit 18 lieber eine Kneipe in Köln aufgemacht hat. "Aus dir wird mal ein kritischer und selbstbestimmter Mensch, der nicht alles so macht, wie die breite Masse!", flüstert mein Papa dann. Die Falle schnappt zu, Fötus-Hannah denkt sich "Gott, wie peinlich" und wird zum kleinen Spießer.

Die offensichtliche Totalverweigerung. Via weheartit

"Ich will Club-Urlaub auf Mallorca machen!", brüllt die verwirrte Grundschul-Hannah ihren Eltern entgegen, die es viel besser finden, in den Ferien auf Berge zu steigen und auf zugigen Almhütten zu übernachten.
Meine Eltern sind entsetzt von dem, was ihre Erziehung bisher produziert hat, ahnen sich doch nicht, dass ich in Wahrheit noch immer den ungeschriebenen Fötus-Index der Totalverweigerung befolge.
"Ihr seid mega peinlich!", motzt die verwirrte Teenager-Hannah, wenn sie mit ihren unkonventionellen Eltern zum Schulfest gehen muss und fragt ihren Vater anklagend, weshalb er nicht einmal im Leben Jeans mit Jacket tragen kann, so, wie das alle anderen Väter auch machen. "Man muss nicht immer alles so machen, wie die anderen" steht lange Zeit auf meiner Liste der schlechtesten Elternsprüche ganz weit oben.

Heute bin ich der Ansicht, dass jeder Mensch irgendwann in seinem Leben zu der Erkenntnis gelangen sollte, wie unglaublich lächerlich es ist, sich von seinem inneren Fötus fremdbestimmen zu lassen. Ich bin mir nicht ganz sicher, wann meine Erleuchtung eingetreten ist, vermute aber, dass es ein schleichender Prozess war. "Gott, wie peinlich", dachte ich mit einem Mal, wenn ich Spießer-Väter anderer Leute sah, die in Jacket und Jeans über die "Auslänner" redeten, die frecherweise ins Nachbarhaus gezogen waren.
"Gott, wie peinlich", war mein Gedanke, wenn ich Spießer-Mütter über die Lieblingsgerichte ihrer Ehemänner sprechen hörte oder über deren Macken, "aber ich kann es ihm einfach nicht übel nehmen, hihihi."

Eines Morgens wachte ich also auf und wusste, dass ich eigentlich schon ein bisschen so werden möchte, wie meine Eltern. Diese Einsicht schockte mich, denn schließlich hatte ich viele Jahre meines Lebens nach einem anderen Credo gestaltet. Ich muss zur Verteidigung meines Fötus-Ich hinzufügen, dass ich nicht vorhabe, auf dem Schulfest meiner Kinder eine Leopardenhose zu tragen. Auch werde ich ihnen eventuell peinliche neonorangene aber bestimmt biologisch abbaubare und so unglaublich praktische Regencapes ersparen, die ich in der Grundschule tragen musste und die mich laut den freundlichen Hinweisen meiner Mitschüler wie einen  Mitarbeiter der städtischen Müllabfuhr aussehen ließen.
Zum Club-Urlaub nach Mallorca werde ich mit ihnen aber nicht fahren. Und den Satz: "Man muss nicht immer alles so machen, wie die anderen" kann ich ja eh' schon gut aufsagen, den werde ich also wohl auch hin und wieder fallen lassen.
Vielleicht werde ich sie manchmal versehentlich dazu auffordern, die Dinge auf ihrem Schreibtisch parallel anzuordnen.
Ich hoffe ganz einfach, dass ihr innerer Fötus sie dann noch so weit fremdbestimmt, dass sie sich weigern, dies zu tun.

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